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von Glenn W. Most (Heidelberg)
Piero Boitani, The Shadow of Ulysses. Figures of a Myth, übers. Anita Weston (Oxford: Clarendon Press, 1994)
Gotthard Fuchs, hrsg., Lange Irrfahrt — große Heimkehr. Odysseus
als Archetyp — zur Aktualität des Mythos (Frankfurt a.M.:
Verlag Josef Knecht, 1994)
"Is it Ulysses that approaches from the east, | The interminable adventurer?" Penelope (in Wallace Stevens' The World as Meditation) hat gut fragen. Denn offenbar hat der Vielgewandte, Vielgewanderte seine Reise nicht beendet, sondern entdeckt immer noch fremdartige, barbarische Kulturen, zuletzt die unsrige. Doch im Laufe seiner jahrhundertlangen Selbstentdeckungsfahrt hat der Maskenfrohe die Identität so oft gewechselt, daß die eigene Ehefrau ihn nicht mehr erkennen würde.
Warum übt Odysseus eine buntere, widerstandsfähigere Faszination als jede andere Figur der griechischen Mythologie aus, vielleicht sogar noch mehr seit als während der Antike? Wohl erstens weil das unbändige Überleben in den Grundzügen seines Charakters fest geschrieben steht. Achill mag ein kurzes, glorreiches Leben einem langen, ruhmlosen vorgezogen haben; aber gerade Odysseus, dem er in der Unterwelt seinen Fehler bekennt, ist der Beweis dafür, daß sich diese Alternativen gar nicht ausschließen müssen. Ein unsterblicher Ruhm, für den man nicht früh sterben muß, sondern der sich mit einem dem Leser vertrauten behaglichen Dasein verträgt — welcher Sterbliche könnte dem widerstehen? Und zweitens ist Odysseus nicht nur ein Tatenheld, sondern auch und vor allem ein Wortgewandter, jedem Dichter ein Spiegel der eigenen Idealisierung. Seiner Beredsamkeit fügt sich jede erdenkbare Situation, seine Abenteuererzählung zieht nicht nur phäakische Zuhörer unwiderstehlich in den Bann (sie macht nur ein Sechstel des homerischen Epos aus, bestimmt aber weitgehend sein Nachleben), der Phäakenkönig lobt ihn wie einen redlichen Dichter.
Am Höhepunkt der ganzen Handlung, wenn nur dem Unerkannten, Bettler im eigenen Palast, das Spannen des tod- und lebenbringenden Bogens gelingt, vergleicht Homer ihn mit einem Sänger, der die Saiten seiner Leier anspannt. Mythos ist niemals auf
seine Darstellungen reduzierbar; aber wie kaum ein anderer hebt sich
der Mythos Odysseus uneinholbar von jeder Version von ihm ab. Der
mythische
Überschuß ist schon am homerischen Text unverkennbar. Denn
einerseits geht Odysseus' Ruhm allen erzählten Ereignissen voraus
(Merkmal einer als solcher erkennbaren Zivilisation ist, daß bei
seiner Ankunft schon von ihm die Rede ist) und bestimmt diese ursächlich;
andererseits weist das Epos über sein eigenes Ende hinaus, in
Teiresias' rätselhafter Prophezeiung eines Neuaufbruchs nach
Odysseus' Ankunft in Ithaka und einer Weiterreise ins Landesinnere,
bis er ein Volk entdeckt, das vom Meer noch nichts weiß, und
auch dieses für den Kult des Meergotts erobert. Ein
Heimkehrender, der keines solchen Neuaufbruchs fähig wäre, hätte
auch im Nachleben weit weniger neue Ufer und Zeitalter erreicht.
Dennoch wird jede spätere dichterische Version ihre eigene
Identität durch eine Begrenzung des unbegrenzbaren Helden auf
irgend ein Telos, sei es auch die Unbegrenzbarkeit selbst, hin zu
erreichen versuchen — und jedesmal wird der Listenreiche ihr noch
einmal entkommen und ihr gerade dadurch ihren ureigensten Anreiz
verleihen.
Odysseus hat jedoch schon Schlimmeres erlebt: auch seinen neuesten Bewunderern wird er entkommen.
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Last technical revision June, 9, 1995.
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