KIRKE Antike-Lexikon für Schule und Studium: T Telemachos
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Tacitus

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Publius (?) Cornelius Tacitus (ca. 60 n. Chr. – ca. 120 n. Chr.)

Tacitus gilt als der letzte große Vertreter der senatorischen Historiographie in lateinischer Sprache. Neben drei kleineren Erstwerken, der vita über seinen Schwiegervater Gnaeus Iulius Agricola (40–93 n. Chr.), einer Schrift über die Völker Germaniens, Germania genannt, und den Dialogus de oratoribus basiert dieser Ruf in erster Linie auf seinen Geschichtswerken, den Historiae, die die Zeit des flavischen Kaiserhauses behandeln, und den Annales, in denen er die Entwicklung der Kaiserzeit seit dem Tod des Augustus 14 n. Chr. bis möglicherweis zum Tod Neros 68 n. Chr. nachzeichnet. Tatsächlich hat bis ins vierte Jahrhundert n. Chr. kein Römer in lateinischer Sprache entsprechendes verfasst. Als Gattung der Geschichtsschreibung setzt sich im lateinischen Raum mit dem Zeitgenossen des Tacitus Sueton (ca. 70 – ca. 122 n. Chr.) die Biographie zunächst durch. Erst Ammianus Marcellinus (333–ca. 400 n. Chr.) knüpft in seinen res gestae bewusst an die Historiae des Tacitus an. Seine Werke werden in gesonderten Artikeln besprochen.
Alle kärglichen biographischen Erkenntnisse über Tacitus lassen sich entweder nur aus seinen eigenen Werken, aus Angaben insbesondere aus den Briefen seines Freundes Plinius (61/ 62 – 113/ 115 n. Chr.) gewinnen oder erschließen. So ist schon sein praenomen nicht gesichert, man neigt eher zu Publius, doch auch Gaius ist aus einer spätantiken Bemerkung bekannt. Auch seine familiäre Herkunft ist nicht endgültig gesichert: Der Onkel des jüngeren Plinius spricht von einem Cornelius Tacitus, der ritterlicher Prokurator in der belgischen Provinz (Gallia Belgica) war. Vielleicht war diese ritterliche Familie dann gallischer Herkunft (Gallia Cisalpina/ Gallia Narbonensis).
Sein Geburtsjahr ist nicht eindeutig zu bestimmen, wohl um das Jahr 60 n. Chr., vielleicht etwas früher (58 n. Chr. (?)). Dies lässt sich in erster Linie aus seiner Hochzeit und den frühen Ämtern ableiten: Wenn er 76/ 7 n. Chr. geheiratet hat (s. u.), muss er mindestens 14 Jahre alt gewesen sein. Er wird aber kaum das Interesse einer Familie der römischen nobilitas erregt haben, wenn er sich nicht schon erste Erfolge auf politischem Gebiet oder vor Gericht erzielt hatte; ebensowenig wird er ohne solche Erfolge mit 14 oder 15 Jahren schon decemvir stlitibus iudicandibus geworden sein (falls die entsprechende Inschrift (s. u.) auf ihn zu beziehen ist).
Wenn seine Familie ritterlicher Herkunft aus Gallien gewesen ist (vgl. dazu Plin., NH 7, 76), dann dürfte sie die politische Karriere des homo novus Tacitus und den Aufstand in den Senatorenstand im Auge gehabt haben. Denn Tacitus wurde offenbar zielgerichtet ausgebildet: Als Lehrer nennt er selbst (dial. 2, 1) Marcus Aper, einen berühmten Redner der Flavierzeit, und Iulius Secundus, über den nichts weiter bekannt ist. In dieser Tätigkeit als Gerichtsredner hat er es offenbar schon früh zu einiger Bekanntheit gebracht, so zumindest sein Freund Plinius (ep. 2, 1, 6). Bekannt sind nur sein Nachruf auf L. Verginius Rufus, dem als erfolgreichen Kommandeur im Krisenjahr 68/ 9 n. Chr. mehrfach das Kaisertum angetragen wurde, und seine Anklage 100 n. Chr. im Repetundenprozess gegen Marius Priscus (vgl. Plin. ep. 2, 1/ 11). Wie intensiv seine Tätigkeit als „Anwalt“ auch war, Tacitus hatte 76/ 77 n. Chr. eine solche Position, dass er für die nobiles eine interessante Partie wurde: Er verlobte sich mit der Tochter des Gn. Iulius Agricola, des Suffektkonsuls von 77 n. Chr. und in den folgenden Jahren bis 83 n. Chr. legatus Augusti pro consule in der vergleichsweise jungen und unruhigen Provinz Britannien (seit 43 n. Chr.). Tacitus begann nach seinem eigenen Zeugnis (hist. 1, 1, 3) den cursus honorum unter Vespasians Herrschaft (69–79 n. Chr.), wohl eher in den letzten Jahren dieser Herrschaft, möglicherweise in die Jahre um seine Hochzeit. Denn beides bedeutete den Einstieg in die senatorisch kaiserlichen Machtkreise in Rom. Zu dieser Vermutung würden eine Inschrift (CIL 6, 41106), derzufolge ein Tacitus 76 n. Chr. decemvir stlitibus iudicandibus, also Mitglied einer Art Schwurgerichtshof, war, passen. Durch Tacitus selbst bezeugt ist seine Tätigkeit als praetor und quindecimvir, als Mitglied eines der höchsten Priesterkollegien, 88 n. Chr. (ann. 11, 11, 1), so dass seine Tätigkeit als quaestor und, falls die Inschrift auf ihn zu beziehen ist, auch als Volkstribun zwischen 76 und 88 v. Chr. zu datieren wäre, möglicherweise unter Titus (79–81 n. Chr.); vgl. hist. 1, 1, 3: dignitatem nostram … a Tito auctam. Danach war Tacitus mehrere Jahre nicht in Rom, entweder als legatus pro praetore in einer Provinz oder in militärischer Mission, wie lange ist unklar, in jedem Fall bis 93 n. Chr., da er beim Tod des Schwiegervaters nicht anwesend war (Agr. 45, 4f.). 97 n. Chr. wurde er Suffektkonsul (Plin., ep. 2, 1, 6). Unter Traian (98–117 n. Chr.) war er bis 104/5 n. Chr. offenbar längere Zeit (vgl. Plin., ep. 4, 13, 1) nicht in Rom, nahe liegt eine Tätigkeit als Statthalter einer prokonsularischen Provinz. Vergleichsweise sicher ist nach einem Inschriftenfund in Mylasa (365, Z. 2) seine Statthalterschaft der Provinz Asia 112/3 n. Chr. Gestorben ist er vielleicht erst unter Hadrians Herrschaft (117–131 n. Chr.).
Tacitus hat zuerst drei „kleinere“ opera verfasst, 98 n. Chr. die vita seines Schwiegervaters, De vita Iulii Agricolae, dann den Dialogus de oratoribus und die ethnographische Schrift De origine et situ Germanorum, Germania genannt. Ab 104/ 5 n. Chr. (vgl. Plin., ep. 6, 16. 20; 7, 33) widmete er sich historiographischen Großformen, den Historiae, die in 12 oder 14 Büchern die römische Geschichte vom 1. Januar 69 n. Chr. bis zur Ermordung Domitians umfassen (abgeschlossen vielleicht 109), und den Annales, die wohl in 16 Büchern die Zeit des Prinzipats seit dem Tod des Augustus mindestens bis 66 n. Chr., möglicherweise bis zum Tod Neros erfassen. Diese inhaltlichen Unklarheiten sind auf die fragmentarische Überlieferung zurückzuführen. Von den Historiae sind nur die ersten vier Bücher und der Anfang des fünften, von den Annales die Bücher 1–6 und (unvollständig) die Bücher 11–16 erhalten sind. Da Tacitus mit hoher Wahrscheinlichkeit die Annales nicht mehr endredigieren konnte, ist es eben auch fraglich, ob er nicht noch das Ende des julisch claudischen Kaiserhauses unter Nero darstellen und damit den Anknüpfungspunkt an die Historiae schaffen wollte. Dem Kirchenvater Hieronymus (347–420 n. Chr.) jedenfalls waren Annales und Historiae als zusammenhängende Geschichte der Kaiserzeit in 30 Bänden bekannt (Comm. in Zachar. 3, 14).
Wenn die gens des Tacitus das Ziel gehabt haben sollte, ihm die Karriere als homo novus in die höchsten Ämter des römischen Staates zu ermöglichen, ist dieses Ziel erreicht worden. Offenkundig kann Tacitus bei aller Kargheit der Daten eine konsequente Karriere nachweisen. Genau hier liegt aber ein moralisches Problem, gerade wenn er sich als homo novus der Tradition des ordo senatorius verpflichtet sehen wollte: Er selbst schreibt davon, dass er gerade unter Domitian auch diesen Weg fortsetzte (hist. 1, 1, 3). Andererseits betont er die servitus unter der Willkürherrschaft des letzten Flaviers (81–96 n. Chr.) im Agricola (1–3), die im Widerspruch zum Selbstbewusstsein des Senats stehen musste. Unter diesem Spannungsverhältnis sollte die vita des Tacitus wie auch sein schriftstellerisches Wirken betrachtet werden.
 
Germania

Im Gegensatz zum Agricola äußert sich Tacitus in der Germania nicht selbst über seine Zielsetzungen, ein Proöm, eine Einleitung fehlt. Sie lassen sich also nur über die Betrachtung des Werks erschließen. Es gliedert sich in einen allgemeinen Teil (Kap. 1–27) über die grundsätzlichen Sitten der Germanen und einen konkreten (28–46) über einzelne Stämme. Sein Gesamtbild aus manchen Germanenklischees der Römer gespeist (ihr unbändiger Kampfesgeist [vgl. zu Kap. 30 Vell. Pat. 2,12,1–3. 2,106,2; Cass. Dio 40,39,3 und 77(78),14,1} und Freiheitswille [vgl. zu Kap. 11 Tacitus selbst in Ann. 2,10; Cass. Dio 56,18,4 und auch Florus, 2,30,3–5], der Einfluss von Frauen und ihren Zaubergesängen [vgl. zu Germ. 8 Tacitus selbst in Hist. 2,24; Caesar, bell. Gall. 1,51,3; Cass. Dio 38,48,1; 55,1,3; 77(78),15,2]). Aus ethnographischer Sicht macht Tacitus zuweilen andere Angaben als Caesar (vgl. z. B. zu Kap. 28 (Treverer) Caes., bell. Gall. 2, 4), dennoch haben sich viele seiner konkreten Angaben insbesondere des zweiten Teils aus archäologischer Sicht als zuverlässig erwiesen. Im zweiten Teil fallen zwei Stammesbeschreibungen auf: Chatten und Sueben. Im Vergleich zu anderen Stämmen, die Tacitus in mehreren Kapiteln (27–29 (Helvetier, Boier, Treverer, Nervier, Vangionen, Triboker, Nemeter, Ubier, Bataver, Mattiaker)/ 32–34 (Tenkterer, Brukterer, Angrivarier, Chamaver, Dulgubnier, Chasuarier, Friesen, Chauken, Cherusker, Kimbern), 46 (Peukiner, Veneter, Fennen)) abhandelt, sieht er in den Sueben einen zusammenhängenden Stammesverband mit ähnlicher Lebensweise, dessen weitverzweigte Stämme er dann auflistet (38–45: Semnonen, Langobarden, andere Stämme auf einer Insel weit im Meer, Hermunduren, Narister, Markomannen, Quaden, Lugiren, Naharvalen, Harier, Marsigner, Buren, Goten, Rugier, Lemovier, Suionen, Sitonen) und beschreibt die Chatten in zwei Kapiteln. Die Chatten also sind also im Vergleich recht ausführlich dargestellt. Der Grund dürften die Feldzüge Domitians gegen die Chatten 83 und 85 n. Chr. sein: Domitian hatte sich als Germanicus maximus feiern lassen, weil er ein begrenztes Territorium unterworfen und zwei germanische Provinzen geschaffen hatte. Diese Ehrungen und der Titel erfuhren von deutliche Mißbilligung (vgl. dazu Sueton, Domit. 6, und Cassius Dio 67,4,1 bei Xiphilinos).
Tacitus selbst dürfte es in erster Linie nicht um das Ziel ethnischer Zuverlässigkeit gegangen sein. Denn auffällig ist, wie deutlich er auf die erhabene sittliche Lebensweise der germanischen Stämme im Allgemeinen wie auch im Konkreten abhebt. Dies gilt insbesondere hinsichtlich ihres sittenstrengen Lebens und ihrer Aufrichtigkeit und Treue wie ihres Freiheitswillens (s. o.). Konkrete vitia, Faulheit in er der alltäglichen Arbeit, Würfelspiel und maßloser Alkoholkonsum, treten vor diesen grundsätzlichen Vorzügen in den Hintergrund. Dabei dient Tacitus die Situation römischer Verhältnisse als finstere Folie für das sittlich richtige Verhalten der Germanen: Ihrer pudicitia stellt spectaculorum inlecebrae und conviviorum inritationes corruptae gegenüber und beschließt dieses Kapitel 19 mit dem zynischen Satz: Plusque ibi boni mores valent quam alibi bonae leges. Spectacula und convivia sind typische Begriffe der römischen Freizeitkultur, und auf ihre leges waren die Römer bekanntlich besonders stolz. Insofern kann sich alibi auf Rom meinen. Insbesondere die innere Zwietracht (discordia nostra) in Rom macht Tacitus für Erfolge der Germanen verantwortlich (Kap. 37). Gerade dieses Urteil reiht sich in eine lange Tradition des metus hostilis ein: Die Furcht vor dem Feind einigt Rom, die fehlende Eintracht bestärkt den Feind und führt zu römischen Niederlagen (Diod. 34/35,33,3; Sall., bell. Jugh. 41,1–5; Hist. 11,1; Liv. 2,18,1–9; Gellius, NA 9,12,13–16; Cass. Dio bei Zonaras 7,13,12–15,10).
Zudem: Zu welchem Zweck hat Tacitus gerade die Germanen als Objekt einer ethnographischen Schrift herausgesucht? Angesichts seines ethnographischen Exkurses über die Britannier in der früheren Schrift über das Leben seines Schwiegervaters Agricola (10f.) hätte sich dieses Sujet auch aus arbeitsökonomischen Gründen angeboten. Genausowenig wie die Britannier (vgl. Agr. 10, 1) waren die Germanen nicht schon früher Themen der historio- und ehtnographischen Literatur gewesen, insbesondere in den 20 Bücher über die bella Germaniae des älteren Plinius. Ein substantiell neues Thema hat Tacitus also nicht aufgegriffen. Allerdings waren die Germanen seit den Kimbern und Teutonen ein Angstfeind der Römer (dazu Vell. Pat. 2,12,1–3. 2,106,2; Cass. Dio 40,39,3), erst recht seit der Varuskatastrophe 9 n. Chr. (dazu Tacitus selbst in Ann. 60ff; Cass. Dio 56, 18–24). Die folgenden Vorstöße Roms nach Germanien galten immer unter der Praemisse, diese Niederlage zu kompensieren (so der Triumphbogen für Germanicus; dazu auch Cass. Dio 57,18,1). De facto hatte sich Rom unter Tiberius hinter den Rhein zurückgezogen. Vor diesem Hintergrund ist auch das Bedürfnis Domitians einzuordnen, als Maximus Germanicus geehrt zu werden; er präsentiert sich als angeblich erfolgreicher Führer Roms gegen den Feind, der Rom einst eine ungeheure Schmach zugefügt hatte, und als derjenige, der das Reich in Germanien vergrößert hatte. Ob dieser Anspruch zutrifft, ist hier sekundär.
Vor diesem Hintergrund sind das Lob der sittlichen Höhe dieses Gegners und die Ursachen seiner Erfolge mehr als auffällig: Gerade weil er an diesem erfolgreichen Angstgegner die Bedeutung sittlicher Integrität und Stärke gegenüber der inneren Verkommenheit der zeitgenössischen römischen Zustände darstellen konnte, hat Tacitus sich für ihn entschieden. Zu dieser Zielsetzung steht die Zuverlässigkeit seiner ethnographischen Angaben nicht im Widerspruch.

bs
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